In der HIV-Sprechstunde

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Mit dem Thema HIV und AIDS habe ich mich schon vor Jahren erstmals befasst, durch ein Jugendbuch, in dem sich eine damals 15jährige (und das war für mich alt – was war ich jung!) in einen HIV-positiven jungen Mann verliebt hat. Was mich damals am meisten beeindruckte, war einerseits das unaufhaltsame Fortschreiten der Erkrankung – vor der Zeit der antiretroviralen Medikamente – andererseits der „acquired“ Teil des „Acquired Immundeficiency Syndroms (AIDS)“: man war tatsächlich selbst für seine Infektion verantwortlich. Einen so weitreichenden Fehler zu begehen, und dann mit den Konsequenzen zu leben, beziehungsweise früher sterben zu müssen, das stellte ich mir schrecklich vor. Die körperliche Lust, die einen in manchen Situationen eher emotionale als rationale Entscheidungen treffen lässt, kannte ich damals noch nicht; sie macht das Ganze natürlich noch viel schwieriger.

Dann sind da Filme: „Kids“ über Jugendliche in New York (unbedingt empfehlenswert, wenn auch mit der Warnung, dass die Bilder durchaus der Verdauung bedürfen…), „Million Dollar Baby“, der vom illegalen Handel mit den ersten HIV-Medikamenten erzählt, und der gerade letztes Jahr erschienene „120 Minutes“, in dem es um die Aktivistengruppe „Act Up“ geht, die sich in Paris für die Bereitstellung neuer Forschungsergebnisse durch Pharmafirmen, Aufklärungskampagnen und Rechte von HIV-positiven Patienten einsetzte. Außerdem natürlich der Sexualunterricht in der 10. Klasse, in der wir Kondome über Bananen stülpen durften; und die Aufklärungskampagnen auf deutschen Bahnsteigen.

Aber persönlich kenne ich bisher (zum Glück) keinen Erkrankten, und so ist der Besuch in der HIV-Sprechstunde etwas ganz Besonderes. Wie muss es sich anfühlen, mit einer Virusinfektion zu leben, die ohne Medikamente immer tödlich verläuft?

Francesco* ist geduldig, still sitzt er neben seinem Partner Luigi und wartet, bis dieser seine aktuellen Probleme, die er als Nebenwirkungen seiner Medikamente einstuft, mit Dr. Miller besprochen hat. Wiederkehrende Muskelschmerzen sind es vor allem, die Luigi plagen, und als der Arzt ihn darauf aufmerksam macht, dass diese schon beim Besuch vor 4 Jahren besprochen wurden, ist Luigi verdutzt. Er hätte schwören können, dass die Beschwerden erst seit dem letzten Medikamentenwechsel begonnen hätten! Ob es sein könne, dass die Schmerzen auch von der seelischen Belastung durch seinen krebskranken Vater verstärkt werden? Luigi zuckt die Schultern – vielleicht? Dr. Miller zeigt Verständnis (obwohl er sich wenig Erfolg erhofft und dies auch klar kommuniziert) und verschreibt Luigi wieder seine alten Medikamente. Francesco wendet sich zu mir, als das Paar endlich Plätze wechselt – „von mir lernst du nicht so viel, bei mir ist immer alles in Ordnung, mir geht es gut“. Und tatsächlich geht das Gespräch diesmal sehr fix voran: Francescos Laborwerte werden besprochen (stabil), seine Nebenwirkungen (keine), die regelmäßige Medikamenteneinnahme (selbstverständlich, verlässlich wie immer). Wie gut, dass es inzwischen so gut wirkende Medikamente für diese schreckliche Erkrankung gibt. Natürlich: Wie in jedem anderen Gebiet der Medizin geht jeder Patient anders mit seinem Leiden um, ist die Aufmerksamkeit auf mögliche Symtpome und der damit verbundene Leidensdruck unterschiedlich hoch. Doch Dr. Miller kennt seine Patienten gut, gekonnt geht er auf jeden Einzelnen ein, und mit diesem Paar ist er zufrieden.

Dank der modernen Medizin haben HIV-Infizierte heute eine nahezu normale Lebenserwartung – in Ländern, in denen die Therapien kostenlos zugänglich sind, bei guter Compliance. Immer? Nein: Letzte Woche habe ich einen Patienten an den Folgen seiner unerkannten, und daher nicht therapierten, AIDS-Erkrankung sterben sehen. Stark geschwächt durch Wasting-Syndrom (rapider Gewichtverlust) und mit extrem schwacher Immunabwehr konnte selbst die aggressive Therapie auf unserer Intensivstation den Patienten nicht vor seiner Pneumocystis jirovecii Pneumonie retten… Rechtzeitig erkennen und behandeln ist auch bei HIV-Infektionen extrem wichtig; und so werden in dieser Sprechstunde auch kostenlose HIV-Tests angeboten.

Außerdem gibt es Informationen über PrEP – Prä-Expositions-Prophylaxe: Die in der HIV-Therapie langjährig erprobten Wirkstoffe werden entweder täglich oder bei Bedarf (in Deutschland nicht zugelassen), also vor und nach Risiko-Sexualkontakten eingenommen und verhindern so zu 90% eine Ansteckung mit dem HI-Virus. Und der wissenschaftliche Fortschritt lässt auf mehr hoffen – ein Impfstoff ist entwickelt und wird gerade getestet, Ergebnisse sind für 2021 erwartet (https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/96316/Neuer-HIV-Impfstoff-erzielt-robuste-Immunitaet-bei-Affen-und-Menschen).

*Alle Namen sind geändert.

Warum habe ich daran nicht gedacht?

Frau X., Anfang 40, ist am Wochenende auf die Intensivstation aufgenommen worden, zur Thrombektomie bei akutem arteriellen Gefäßverschluss der Arteria iliaca interna (versorgt das gesamte linke Bein mit Blut). Ihre Geschichte ist komplex – Alkoholikerin, keine Vorerkrankungen bis vor 8 Wochen, als sie wegen allgemeiner Müdigkeit und Fieber im nahen Kreiskrankenhaus stationär war. Dort wurden ihr ein Diabetes Typ 2, arterieller Bluthochdruck, eine Fettleber mit fokaler Zirrhose sowie eine pulmonale Hypertension diagnostiziert; eine lange Liste für die recht junge Patientin. Doch es wird immer wilder: im aktuellen CT war nicht nur die A. iliaca interna verschlossen, kleine embolische Infarkte befanden sich auch in beiden Nierenarterien, Ästen der Milzarterie und der A. coeliaca! Fieber gestern Abend sowie erhöhte Entzündungswerte deuten außerdem auf ein entzündliches Geschehen.

Habt ihr schon eine Verdachtsdiagnose?

Obwohl ich auf der Intensivstation komplexe Patientengeschichten gewohnt bin, überrascht es mich, dass ausgerechnet ich als Studentin bei der Visite unsere nächsten Schritte nennen soll. Aber so ist es auf dieser Station – die Medizinstudenten werden voll und ganz mit eingebunden. Ich versuche es und zähle auf: Die OP verlief problemlos, die Patientin ist ansprechbar und reagiert, ist hämodynamisch stabil und benötigt nur „Pressure Support“, kann also wahrscheinlich bald extubiert werden. Wir haben jedoch ein Fieber unklarer Genese, dem wir auf die Spur gehen müssen (Antibiose erstmal weiter?), sowie die multiplen Organinfarkte. Hierbei denke ich an thromboembolische Ereignisse, hat die Patientin Vorhofflimmern? Der Assistenzarzt im 4. Jahr, der heute die Visite leitet, unterbricht mich – ein Thrombus sei unwahrscheinlich bei den multiplen Infarkten, er denke eher an eine Gerinnungsstörung, Antiphospholipidsyndrom oder Lupus; welche Antikörper sollten wir anfordern?

Sich im Detail verlieren, das passiert nicht nur bei der Klausurvorbereitung

Ich bin verunsichert und grüble nach; im Examen hätte ich garantiert die richtigen Antikörper erkannt, aber leider werden mir in Realität keine Antwortmöglichkeiten genannt. Der Assistent unterbricht; wir sollten vor der Extubation noch ein Herzecho (Ultraschall) machen, um sicher zu gehen, dass keine Thromben vorhanden seien, er glaube aber nicht daran. Wahrscheinlich wird die Patienten noch heute extubiert und auf die Normalstation verlegt. Kurz hört er auf das Herz, weist mich auf den gespaltenen 2. Herzton hin, der durch den Bluthochdruch in der Lungenstrombahn entsteht, und weiter geht es. Die Antibiose würde er nicht weiterführen, sagt er noch im Gehen, er wisse gar nicht wofür.

… und so vergeht die Zeit…

Nach der Visite mache ich mich auf die Suche nach den Unterlagen von Frau X., die sie aus dem anderen Krankenhaus mitgebracht hat. Handelt es sich um eine Fettleber oder sogar eine Zirrhose? In der Akte ist keine genaue Diagnose zu finden und ich nutze die Zeit, um mich in die Diagnostik einer Leberzirrhose einzulesen. Auch untersuche ich zwei andere Patienten, die ich betreue, und schreibe meine Notiz in die Akte.

Als der Oberarzt endlich auf der Station erscheint, ist es schon fast nachmittags. Der Assistenzarzt erinnert an das Herzecho, damit die Patientin hoffentlich bald intubiert und gegebenenfalls verlegt werden kann. Gewappnet mit dem modernen Ultraschallgerät betreten wir das Zimmer.

Sobald das erste Sonobild auf dem Bildschirm erscheint, wissen wir alle: Wir haben da was verpasst.

Die Vegetation an der Mitralklappe springt auch mir als Ultraschall-Laie sofort in’s Auge. Und plötzlich macht alles Sinn: Fieber, Abgeschlagenheit, Klappenfehler, pulmonale Hypertension. Ein Herzgeräusch? Bei genauem Hinhören nickt der Assistenz bestätigend. Eine Endokarditis (Entzündung der Herzklappe) ist zwar recht selten, sollte aber aufgrund der hohen Mortalität immer als Differentialdiagnose in Betracht gezogen werden, wenn Fieber unklarer Genese (sowie ein Herzgeräusch als Kardinalsymptom) besteht. Bei unserer Patientin ist die Lage besonders gefährlich, da sich bereits mehrere Stückchen der Bakterienansammlung an der Herzklappe gelöst und in arterielle Embolus / Gefäßverschlüsse verwandelt haben.

Das nächste mal könnte es auch in’s Gehirn gehen – und dann hätte Frau X. einen Schlaganfall!

Nun geht es schnell. Die Kollegen der Herzchirurgie werden informiert, dass wir eine Patientin für sie haben. Denn dass Frau X. operiert werden muss, um die tickende Zeitbombe von ihrer Herzklappe zu entfernen und ihr eine neue Klappe einzusetzen, darüber sind sich alle einig. Außerdem werden die Kollegen der Infektiologie angerufen – haben sie noch eine Idee, wir wie die Breitbandantibiotika noch erweitern sollten, um alle möglichen Erreger mit abzudecken? Zuletzt ein Anruf in die Pathologie: Können sich die Kollegen den Thrombus von Frau X anschauen, der am Vortag entfernt worden ist? Vielleicht erhalten wir so mehr Informationen zum Erreger?

Ich mache mir Gedanken – Frau X. Fall hätte auch aus dem Examen stammen könne, wieso habe ich nicht an die Endokarditis gedacht?

Zum Glück ist Frau X. kein Schaden daraus entstanden, dass wir (oder ich?) heute morgen nicht gleich an eine Endokarditis gedacht haben. Aber dennoch – ich hätte es besser wissen müssen. Ich nehme mir vor, in Zukunft wirklich immer ganz genau hinzuhören bei der Auskultation, zu fühlen, zu sehen, nachzudenken und zu hinterfragen. Mich nicht allzu schnell zufrieden stellen zu lassen mit einer kurzen Erklärung meiner Vorgesetzten, sondern selbst nachzulesen, wenn ich mir unsicher bin. Denn ja: Oberärzte und ältere Assistenten haben weitaus mehr klinische Erfahrung als ich. Dass sie keine Fehler machen beziehungsweise Dinge übersehen, die mir als Studentin auffallen könnten, heißt das aber nicht.

Gründlichkeit und Sorgfalt gehören meiner Meinung nach zu den wichtigsten Eigenschaften eines guten Arztes

Aus dem Studium bin ich gewohnt, schnell korrigiert zu werden. In Multiple Choice Examina gibt es sofort Feedback, auf das man sich verlassen kann. In der Klinik ist es anders – immer wieder müssen bereits gestellte Diagnosen nachvollzogen, Indikation auf ihre Sinnhaftigkeit geprüft, nach objektiven Nachweisen oder klinischen Zeichen gesucht werden. Den Assistenten, der in unserer gemeinsamen Visite heute morgen wahrscheinlich etwas zu schnell war, habe ich bisher als besonders gründlich und gut wahrgenommen. Heute hatte er allerdings Hunger und wollte eine baldige Kaffeepause – und ich habe seine dürftige Erklärung nicht weiter hinterfragt. Ich nehme mir fest vor, aus dieser Erfahrung zu lernen.

Patienten, die einem nicht aus dem Kopf gehen

Herr Serani* ist einer von ihnen – ein Patient, an den ich immer wieder denken muss, obwohl unsere Begegnung nun schon einige Wochen her ist. Hier seine Geschichte.

Ich bin gerade für mein PJ in Nordamerika. Nach einem Sprung in’s kalte Wasser habe ich mich daran gewöhnt, voll mitzuarbeiten im Gastroenterologie-Service. Inzwischen finde ich mich sogar im riesigen, verwinkelten – da über Jahrzehnte mehrfach erweiterten – Krankenhaus wieder, ohne ständig unfreiwillige Umwege zu machen. Die Studenten dürfen / müssen hier sehr selbständig mitarbeiten, und so bin ich heute wieder unterwegs zu einem Konsil. Die Kollegen im Emergency Room rufen uns, da sie eine GI-Blutung (gastrointestinale Blutung) bei einem ihrer Patienten vermuten.

Schnell suche ich mir das Konsil in Papierform, einen freien PC und lese im System nach, was die Ärzte der Notaufnahme schreiben. Der  93jähriger Patient heißt Herr Serani und wurde vom Rettungsdienst gebracht, nachdem er heute Morgen eine Synkope hatte, also in Ohnmacht gefallen ist. Kaum Vorerkrankungen bis auf einen gut eingestellten Bluthochdruck und eine Knie-OP vor 15 Jahren – es scheint sich um einen recht fitten alten Herrn zu halten. Nur der Hämoglobinwert spring mir in’s Auge: mit 7,6 sehr niedrig und Grund dafür, dass uns die Kollegen rufen. Bei einem solchen Wert und gutem Allgemeinzustand ist ein chronischer Prozess anzunehmen – oft eine sickernde Blutung im Darmtrakt.

Nach diesem ersten Eindruck ist es Zeit, direkt mit dem Patienten zu sprechen. Ich suche mir die Kabine und stehe kurz später am Krankenbett. Anamnese: Die Angaben in der Akte sind richtig: keine weiteren Vorerkrankungen, gelegentlicher Alkoholgenuss, kein Tabak, keine Drogen; die Medikamentenliste ist aktuell. In Gedanken gehe ich meine Struktur durch, nun zur HPI (History of present illness). Herr Serani sei heute früh bei seiner Ehefrau zu Besuch gewesen, die mit Demenz im Pflegeheim wohnt. Auf dem Weg zurück zum Aufzug sei ihm dann plötzlich schwindelig geworden und er habe sich auf dem Boden liegend wiedergefunden. Sogar geblutet habe er vom Sturz. Herr Serani zeigt auf den Verband an seiner linken Schläfe. Nein, in den letzten Wochen habe er keine Veränderungen bemerkt, nur etwas müde sei er gewesen. Schwindel? Ja, vielleicht. Übelkeit – nein. Erbrechen – nein. Veränderungen des Stuhlverhaltens – was meinen Sie damit? Durchfall, schwarzer Stuhl, blutiger Stuhl, Änderungen in Form und Farbe? Nein. ÖGD oder Koloskopie in der Vergangenheit? Nie.

Wie sinnvoll es ist, sich während des Patientengesprächs an seine Struktur zu halten, habe ich inzwischen gemerkt, denn bei der Übergabe an den Oberarzt nicht auf alle Details antworten zu können ist peinlich. Zum Glück bleibt dennoch Zeit für mehr – zumindest für mich als Studentin. Herr Sertani unterbricht, und will wissen wo ich herkomme. Als er hört, dass ich aus Deutschland komme, grinst er breit und bietet mir an, das Gespräch auf deutsch weiterzuführen.

„Wissen Sie, ich komme nicht aus Deutschland aber ich bin deutschsprachig aufgewachsen. In Rumänien, in einer deutschen Gemeinde. Meine Mutter war Deutsche. Ja – mein Name klingt nicht deutsch, den habe ich ändern lassen. Wieso? Ach, das ist eine etwas längere Geschichte. Vor meinem 20. Lebensjahr hatte ich bereits zwei Jahre in der russischen Armee gedient und war ein Jahr im Konzentrationslager. Als Jude war das Leben unglaublich schwer, damals im Krieg. Nach Rumänien wollte ich nicht zurück nach 1945, also bin ich nach Italien. Und da mein Cousin bereits nach Argentinien geflohen war und wir gemeinsam nach Kanada auswandern wollten, hab ich dann meinen Namen geändert. Wieso? Na weil weder Argentinien noch Kanada nach dem Krieg Juden aufnehmen wollten! Nazis durften rein, aber Juden? Deswegen heiße ich nicht mehr Silberbach. Aber Sertani ist auch schön, oder?

Naja, jedenfalls konnte ich so auswandern. Zwar nicht direkt nach Kanada, sondern nach Südamerika – ich habe 17 Jahre in Chile gelebt. Erst später bin ich dann mit meinem Cousin nach Kanada gezogen. Und Sie sind auch neu hier? Wie schön, dass das Reisen heutzutage so einfach ist… Damals war das anders.“

Interessiert lausche ich den Worten des alten Mannes, und auf meine lobenden und dankenden Worte, nickt er stolz und erklärt, dass er vor kurzem für ein Museumsprojekt interviewt worden sei, als Zeitzeuge. Denn bald seien auch die letzten seiner Generation verstorben, da müsse man sich jetzt beeilen. Beeindruckt von der geistigen Klarheit und Intelligenz des Patienten, aber auch der Gewaltsamkeit seines Lebenslaufes verweile ich noch eine Weile im Patientenzimmer und unterhalte mich mit Herrn Serani, das geht gut während der körperlichen Untersuchung. Was für ein Privileg, als Teil seiner Arbeit solch wertvollen Gespräche führen zu dürfen!

Bei der Übergabe an den Oberarzt später zählen jedoch nur die harten Fakten: „Herr Serani ist ein 93jähriger Patient mit Hypertension, der heute Mittag eine Synkope erlitt. Er beschreibt zunehmende Müdigkeit während der letzten Wochen und ist ansonsten symptomlos. Er hatte noch nie eine Darmspiegelung. Die körperliche Untersuchung inklusive digital-rektaler Untersuchung waren unauffällig. Allerdings lag der Hämoglobin bei 7,6mg/dl; somit ist eine Koloskopie (Darmspiegelung) zum Ausschluss einer unteren GI-Blutung indiziert.“

Für mehr reicht die wertvolle Zeit des Oberarztes leider nicht; aber zumindest euch konnte ich etwas mehr von Herrn Serani erzählen.

*Name geändert

Wie schwierig es unsere Patienten haben (und warum es gut ist, ab und an selbst Patient zu sein)

Zum Glück muss ich nur selten zum Arzt, und wenn, dann meist zur Vorsorge oder Impfung. Letzte Woche war es jedoch wieder so weit – der Arztbesuch war leider nicht schön, aber die Erfahrung für mich umso wichtiger: Zu schnell vergisst man als Mediziner, welches Gewicht die eigenen Worte haben.

Ein Routinebesuch wird zur Achterbahnfahrt

Eigentlich hatte ich den Termin beim Gynäkologen nur vereinbart, um mich selbst zu beruhigen – und weil die letzte Vorsorge auch schon etwas her war. Aber die vaginale Pilzerkrankung hatte ich mir bereits selbst diagnostiziert (Jucken, Ausfluss, „häufiges ist häufig“), und mit der Therapie begonnen. Als ich bei der Terminvergabe hörte, dass sich ein neuer Kollege um mich kümmern würde, war ich zwar nicht begeistert aber dachte mir, was soll’s – zumindest hatte ich einen Termin für den nächsten Tag.

Ein Vertrauensverhältnis aufzubauen braucht Zeit

Aufgrund mehrerer Umzüge habe ich in den letzten Jahren viele verschiedene Gynäkologen besucht, denn meine Krebsvorsorge nehme ich ernst (und irgendwo muss man das Pillenrezept ja herbekommen). Angenehm ist der erste Besuch nie, schließlich kennt man sich nicht und die Untersuchung ist intim. Aber es gibt große Unterschiede.

Der neue Arzt wirkt nett, versteht schnell mein Problem, schnell bestätigt er mir die Pilzerkrankung und die Therapie. Ich fühle mich gut aufgehoben. Zuerst. Dann beginnt die Verunsicherung. „Sie haben eine Ektopie.“, erklärt er mir mit ernster Stimme bei der gynäkologischen Untersuchung, „da muss man mal einen HPV-Test machen.“ Meine Gedanken rasen, Ektopie – das ist doch etwas ganz normales? HPV… dagegen bin ich geimpft (zumindest Untergruppen 16 und 18, die krebserregend sind), und außerdem habe ich weder Kondylome bemerkt und auch sonst keine Beschwerden? Und der letzte HPV Test war doch negativ? „Haben Sie chronische Entzündungen gehabt? Chlamydien oder so?“, geht es weiter – schnell verneine ich. Gleichzeitig beginne ich, mir Sorgen zu machen. Sieht der Herr Doktor gerade irgendetwas, was auf eine zurückliegende Entzündung hinweisen könnte? Habe ich da etwas nicht mitbekommen? Ab und zu zwickt es im Unterbauch ja schon…

Kommunikation ist das A und O

Leider bleibt es nicht dabei, bei der vaginalen Ultraschalluntersuchung erklärt mir mein Arzt sehr nett, was er sieht (er weiß inzwischen, dass ich bald eine Kollegin sein werde), sagt aber leider zu viel: „Hier ist die Gebärmutter nicht ganz scharf abgegrenzt, sehen Sie, das könnte eine Endometriose sein.“ Was? Endometriose? Hab ich nicht, hatte ich noch nie, will ich nicht! Als er mir dann auch noch eröffnet, dass er meine Eierstöcke, die sich vor drei Jahren ohne Probleme haben darstellen lassen, nicht finden könne, und dass dies an Verwachsungen liegen könnte, ist es um mich geschehen. Gerade habe ich Gyn gelernt für’s Staatsexamen, da heißen chronische Entzündungen = mögliche tubuläre Verwachsungen = bin ich womöglich steril???

Dabei meint es der Arzt nicht böse, da bin ich mir sicher. Er nimmt sich Zeit, mir das Abtasten der Brust genau zu erklären, betont, dass es ihm egal sei, ob seine Patientinnen die IGeL (individuelle Gesundheitsleistung, werden von der Kasse nicht bezahlt) bezahlen können oder nicht – wenn er es für sinnvoll hält, führt er diese dennoch durch. Prinzipiell eine sympathische Einstellung. Aber übertreiben sollte man es deswegen nicht: Kurz darauf diagnostiziert er mir per Ultraschall eine Narbe in der linken Brust („Haben Sie sich da mal gestoßen?“) sowie eine Mastopathie. Vielen Dank, auf diese zwei Diagnosen hätte ich verzichten können.

Manchmal will man nicht alles wissen

Es ist sicher nicht leicht, es jedem Patienten recht zu machen. Jeder Mensch geht anders mit Zweifeln um, hat einen anderen Wissensbedarf; und nur weil man Medizin studiert, möchte man nicht unbedingt über alle Auffälligkeiten des eigenen Körpers Bescheid wissen (zumindest nicht über die, die keine Beschwerden verursachen und nicht gefährlich sind). Auch die Umstellung zwischen der Arbeit im Krankenhaus und in der Praxis ist sicherlich groß; die Patienten kommen mit anderen Problemen und Ansprüchen.

Als frisch Niedergelassener muss man einiges anders machen als in der Klinik. Die Gynäkologin, zu der ich nach drei schlimmen Tagen voller Zweifel und Sorgen gehe, begreift die Situation sofort. „Was, das alles hat er Ihnen gesagt? Aber die Hälfte der Frauen in Ihrem Alter haben eine Ektopie. In der Praxis muss man schnell sein, entscheiden, was abzuklären ist und die Patientinnen beruhigen. Wenn er so weitermacht überlebt er in seiner eigenen Praxis nicht.“ Nun geht es an’s Eingemachte, die Ultraschalluntersuchung. „Sehen Sie, hier liegen Ihre Ovarien, genau da, wo sie sein sollen. Vielleicht lag es am Sonogerät, dass sie sich schlecht darstellen lassen. Wenn Sie nie Probleme hatten ist es sehr unwahrscheinlich, dass da irgendetwas verwachsen ist. Sie behandeln jetzt erstmal die Candidose, und wenn es dann noch Probleme gibt, kommen Sie wieder. Und falls nicht, sehen wir uns zur nächsten Vorsorge“.

Fehlendes Feedback in der Medizin

Als ich die Praxis verlasse, fühle ich mich erleichtert. Ein paar unüberlegte Worte haben mir schlaflose Nächte und eine innere Unruhe bereitet, die wirklich unangenehm war. Ich konnte mich gar nicht auf’s Lernen konzentrieren! Dann frage ich mich, inwiefern ich dem Arzt eine Rückmeldung geben kann. Als Patientin will ich nicht wieder zu ihm, aber kann ich ihm mitteilen, warum? Damit er daraus lernen kann? In der Wirtschaft ist Kundenfeedback oft willkommen und wird ermutigt, bei einem niedergelassenen Arzt habe ich so etwas noch nie institutionalisiert gesehen. Schade eigentlich.

E-Learning: Wie haben die das früher nur gemacht?

Wenn man beim Pinkeln in Ohnmacht fällt, dann heißt das „Miktionssynkope“. Was, noch nie davon gehört? Ich auch nicht – bis heute, da hat sich das dank Amboss geändert. Das webbasierte Lernportal der Firma Miamed hat seit seiner Gründung 2011 ganz still und heimlich die Mediziner-Examensvorbereitung revolutioniert: ein gut strukturierter Lernplan mit Lernkarten, die alle für das Examen wichtigen Krankheitsbilder abdecken, kombiniert mit Altfragen der vergangen Examina und jeder Menge Verlinkungen, Bilder, Skizzen, Fotos, Lehrvideos, weiterführenden Weblinks. Alles, was man heutzutage braucht, um sich auf das 2. Staatsexamen vorzubereiten, wird uns auf dem goldenen Tablett serviert. Ich muss noch nicht einmal planen, wann ich was lerne – 100 Lerntage sieht der Examensplan vor, und ich gehe sie einfach eins nach dem anderen durch.

Viele ältere Mediziner-Generationen kennen wahrscheinlich noch die schwarze Reihe

Mit Büchern lernt heute kaum mehr jemand von uns Medizinstudenten. Zumindest nicht für das Examen. (Nur der Anatomie-Atlas konnte bisher noch nicht digitalisiert werden! Aber den brauch ich zum Glück auch nur noch sehr selten…) Sicher, die Universitätsbibliothek hat auch noch jede Menge Bücher und Zeitschriften zur Ansicht. Aber nur selten sehe ich Studenten, die sich an ihnen bedienen. Die meisten bringen ihre Lernutensilien komplett mit, Lehrbuch, Laptop, Collegeblock; die Bibliothek ist ein modernes Büro, in Ruhe und weniger einsam kann man hier lernen als zuhause, sehen und gesehen werden, Kaffeepausen mit seinen Kommilitonen genießen. Die Kontrolle am Eingang ist deswegen nicht minder streng – man munkelt es gäbe wirklich Studenten, die versuchen würden, Journals aus der Bib zu schmuggeln!

Wie haben die das früher nur gemacht?

Das Lernen ist heute interaktiv. Sobald ich einen Begriff nicht kenne, klicke ich ihn an und lass ihn mir erklären, geht das nicht, google ich ihn kurz. Es gibt kaum ein Thema, zu dem Doccheck, Youtube oder Wikipedia nicht weiter wüssten! In der Forschung ist es genauso, die Pubmed-Recherche liefert mir, richtig angewandt, in Sekundenschnelle relevante Journalartikel, die ich im Handumdrehen in meine Endnote-Bibliothek importiere. Dank meiner intelligenten Ordern sortieren sich die Artikel sogar selbst! Meine Mutter erzählt noch, wie sie sich interessante wissenschaftliche Zeitschriften einzeln aus den Regalen gesucht, den Artikel nachgeschlagen, überflogen, alles was für wichtig empfunden kopiert hat. Was für ein Zeitaufwand!

Wir haben es doch richtig leicht. Oder?

Wir Studenten von heute sind verwöhnt, aber mehr Freizeit haben wir (glaube ich) dennoch nicht als unsere Eltern oder vorangegangene Medizinergenerationen. Die Zeit passt sich an, es wird mehr verlangt (Hypothese! Was meint ihr?), und schließlich geht es wie immer darum, in der Gauß’schen Notenverteilung seines eigenen Semesters möglichst weit rechts zu stehen. Und jeder hat heutzutage Internet. Aber beeindruckend ist es, wie schnell sich Dinge verändern, und dass ich sogar einer junge Assistenzärztin (Examen vor 5 Jahren?) das Amboss-Prinzip erklären muss, lässt mich grübeln. Wie die Zeit vergeht!

Zur Miktionssynkope

Ach ja – so richtig viel konnte Amboss mir dazu leider nicht beibringen, aber nach kurzer Recherche weiß ich mehr: Besonders nach Alkoholkonsum und direkt nach dem Aufstehen aus dem wollig-warmen Bett kann es beim Pipi machen zu Bewusstseinsverlust kommen – Grund ist der plötzlich abnehmende Druck im Unterbauch, der zu einem fallenden Blutdruck führen kann, sowie die Entspannung des gesamten Körpersystems, um das Urinieren zu ermöglichen. Fun Fact: besonders Segler sind gefährdet, an der gefährlichen Synkope zu sterben, wenn sie beim Entleeren ihrer oft übervollen Blase unfreiwillig über Board gehen. Unbedingt als  mögliche Todesursache im Hinterkopf behalten, falls ihr mal eine Wasserleiche mit entblößtem Genitale findet! (Übrigens: Wäre das nicht eine fabelhafte Idee für einen Tatort?)

Zizis

Heute war ich gleich bei drei „Zizi“-Operationen dabei, wie die Zirkumzision / Beschneidung hier unter dem Personal genannt wird. Als ich die Abkürzung und ihre Bedeutung kennen lerne, muss ich schmunzeln, heißt „zizi“ auf französisch doch umgangssprachlich Penis (allerdings mit weichem „z“ gesprochen). Der Eingriff geht schnell, ich darf assistieren, und beim dritten Mal weiß ich schon recht genau, welche Schritte aufeinander folgen.

Die Indikation der drei operierten Kinder ist dieselbe: Phimose, eine Vorhautverengung. Bei kleinen Kindern entwickelt sich diese oft noch zurück, geschieht dies jedoch nicht, ist eine Beschneidung angeraten, um Infektionen und Schmerzen bei der Erektion vorzubeugen. Auch das Risiko für Peniskarzinom und Harnwegsinfekte wird durch den Eingriff verringert.

Geschmäcker sind verschieden

Den Vater des ersten Kindes hab ich morgens noch kurz gesehen – er bat darum, auf die vollständige Beschneidung zu verzichten, falls möglich; aus kosmetischen Gründen (Alternative: eine Vorhauterweiterung mit Teilerhalt der Vorhaut). Die Eltern des zweiten Patient dagegen wünschten, dass möglichst viel der Vorhaut wegkommt; ein „high and tight“ beschnittener Penis sei besonders bei Muslimen präferiert, erklärt mir der Arzt. Ich wusste gar nicht, dass es hier unterschiedliche Vorlieben und damit auch OP-Methoden gibt!

Nachmittags in der Sprechstunde sehe ich gleich drei weitere Jungen, die von ihren Eltern zur OP-Indikation Zirkumzision vorgestellt werden. Ein Junge ist noch zu klein, hier rät die Ärztin vorerst zur lokalen Therapie mit Cortisonsalbe, es sei einen Versuch wert, das Problem konservativ zu lösen. Der zweite Junge hat diese Behandlung bereits hinter sich, erfolglos, er bekommt einen OP-Termin. Und der Dritte?

Andere Motive

„Ihr Sohn hat keine Vorhautverengung, das können wir nicht machen. Wir dürfen diese OP hier nur durchführen, wenn eine medizinische Indikation besteht, und diese kann ich bei Ihrem Sohn nicht feststellen.“, erklärt die Ärztin den Eltern (türkisch? arabisch?), die enttäuscht kucken. Eine Praxis habe sie bereits abgewiesen, weil der Sohn Autist sei und er deswegen keine Narkose vertrage, jetzt wüssten sie nicht weiter. Man merkt, dass den Eltern das Anliegen wichtig ist. Seufzend schreibt die Ärztin die Adresse eines niedergelassenen Kollegen auf, „Ihr Sohn ist gesund, er hat nur eine Wahrnehmungsstörung, das spielt keine Rolle für die Narkose. Wenden Sie sich an diesen Kollegen, der wird das machen.“

Zizi-Fakten

Mich beschäftigt das Thema, und abends google ich ein bisschen: Wusstet ihr, dass die WHO die Beschneidung in Ländern mit hoher HIV-Prävalenz als Teil der Anti-AIDS-Strategie empfiehlt? Denn laut drei randomisiert-kontrollierten Studien nimmt die Ansteckungsgefahr bei heterosexuellem Geschlechtsverkehr nach Beschneidung um ca. 60% ab. Und dass nicht nur die meisten Muslime ihre Söhne beschneiden lassen, sondern auch Juden, und zwar schon am 8. Lebenstag? Überrascht hat mich außerdem, dass auch in den USA sehr viele Babys beschnitten werden – 2005 waren es 56% aller männlichen Neugeborenen, die das Krankenhaus ohne Vorhaut verließen, im Mittleren Westen waren es sogar bis zu 75%. Wieder etwas Neues gelernt!

Link zur WHO-Empfehlung von 2007

 

Gedanken über die (Studenten-) Zeit

Es regnet draußen, es ist grau, kalt und ungemütlich – so richtiges Novemberwetter. Nach Monaten voll Aktivität (Doktorarbeit, Unikurse, Famulaturen, Nebenjob, PJ-Planung, Urlaub) habe ich heute NICHTS vor, jedenfalls bis 17h. Das ist nur noch selten der Fall, denn selbst wenn keine Verpflichtungen rufen, organisiere ich mir meist ein Freizeitprogramm, muss Haushaltsaufgaben erledigen, bin verabredet oder verbringe Zeit mit meinem Freund. „Langeweile muss sein, das brauchen Kinder“, hat meine Oma früher gesagt. Ich glaube, für Erwachsene gilt das genauso! Und genieße meinen Müßiggang.

Studentenzeit

Als Student hat man viel Zeit – zwischen Vorlesungen Kaffee zu trinken ist meist drin, Veranstaltungen können ausgelassen werden („Kannst du morgen für mich unterschreiben?“), kein Vertrag bindet einen, morgens im Büro / auf Station / im Labor zu erscheinen, auch unter der Woche kann ausgeschlafen werden. Das ist richtig. Andererseits ist das Leben bestimmt vom Stunden- und Semesterplan, ein Lerntag ist erst vorbei, wenn man mit sich selbst zufrieden ist, und vor einer Klausur ist Wochenende meist gleichbedeutend mit Bib-Zeit. Nebenbei muss Geld verdient und an der Doktorarbeit gearbeitet werden, und die Familie will, dass man sich regelmäßig blicken lässt.

Dennoch – ich genieße es, Studentin zu sein. So intensiv wie jetzt werde ich die Zeit wohl nie mehr erleben. Und das liegt vor allem an der Abwechslung, die wir Studierende genießen: Kurs A, Kurs B, Kurs C, jedes Mal in einer anderen Klinik, täglich neuer Input, dann Klausurenzeit und fette Party, Semesterferien. Neue WG.  Fünf Wochen reisen. Auslandssemester, Famulatur in der Hauptstadt, wieder zurück, Kurs D, E und F. Doktorarbeit – neue Leute, neues Umfeld, neue Erfahrung. Endspurt, noch eine Famulatur bei der Familie (zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen!), Kurs G und H, dann die Examensvorbereitung. Schließlich das PJ, es zieht uns deutsche Studenten in die Schweiz, nach Frankreich, in die USA. Wo will ich am liebsten hin? Für die Schweiz sind schon alle Plätze weg? Stress – eindeutig ein Wohlstandsproblem, ich weiß.

Zeitgefühl

Mit all dem ist es für mich bald vorbei. Vor mir liegen jetzt noch der 100-Tage Examens-Lernplan, den Amboss so nett für mich strukturiert hat. Anschließend kommt das PJ, das wie im Fluge vergehen wird, und der Berufseinstieg. Ich freue mich darauf, mein Wissen dann anwenden zu können, anzukommen in einem festen Team, Verantwortung zu übernehmen, eine aktive Rolle in der Gesellschaft zu übernehmen, bezahlt zu werden für meine Haupttätigkeit und nicht meinen Aushilfsjob. Aber die Abwechslung des Studentenlebens – die werde ich dann, im Arbeitsalltag, vermissen. Da bin ich mir sicher

Thomas Mann über die Zeit

In seinem Roman „Der Zauberberg“ hat Thomas Mann einen sehr interessanten Abschnitt über das Zeitgefühl und den Zusammenhang zu neuen Orten geschrieben, den ich gerne mit euch teile. Ich habe ihn vor drei Jahren das erste Mal gelesen, und muss immer wieder über seine kluge Beobachtung nachdenken.

„Über das Wesen der Langeweile sind vielfach irrige Vorstellungen verbreitet. Man glaubt im ganzen, daß Interessantheit und Neuheit des Gehaltes die Zeit »vertreibe«, das heißt: verkürze, während Monotonie und Leere ihren Gang beschwere und hemme. Das ist nicht unbedingt zutreffend. Leere und Monotonie mögen zwar den Augenblick und die Stunde dehnen und »langweilig« machen, aber die großen und größten Zeitmassen verkürzen und verflüchtigen sie sogar bis zur Nichtigkeit. Umgekehrt ist ein reicher und interessanter Gehalt wohl imstande, die Stunde und selbst noch den Tag zu verkürzen und zu beschwingen, ins Große gerechnet jedoch verleiht er dem Zeitgange Breite, Gewicht und Solidität, so daß ereignisreiche Jahre viel langsamer vergehen als jene armen, leeren, leichten, die der Wind vor sich her bläst, und die verfliegen. Was man Langeweile nennt, ist also eigentlich vielmehr eine krankhafte Kurzweiligkeit der Zeit infolge von Monotonie: große Zeiträume schrumpfen bei ununterbrochener Gleichförmigkeit auf eine das Herz zu Tode erschreckende Weise zusammen; wenn ein Tag wie alle ist, so sind sie alle wie einer; und bei vollkommener Einförmigkeit würde das längste Leben als ganz kurz erlebt werden und unversehens verflogen sein. Gewöhnung ist ein Einschlafen oder doch ein Mattwerden des Zeitsinnes, und wenn die Jugendjahre langsam erlebt werden, das spätere Leben aber immer hurtiger abläuft und hineilt, so muß auch das auf Gewöhnung beruhen. Wir wissen wohl, daß die Einschaltung von Um- und Neugewöhnungen das einzige Mittel ist, unser Leben zu halten, unseren Zeitsinn aufzufrischen, eine Verjüngung, Verstärkung, Verlangsamung unseres Zeiterlebnisses und damit die Erneuerung unseres Lebensgefühls überhaupt zu erzielen. Dies ist der Zweck des Orts- und Luftwechsels, der Badereise, die Erholsamkeit der Abwechslung und der Episode. Die ersten Tage an einem neuen Aufenthalt haben jugendlichen, das heißt starken und breiten Gang, – es sind etwa sechs bis acht. Dann, in dem Maße, wie man »sich einlebt«, macht sich allmähliche Verkürzung bemerkbar: wer am Leben hängt oder, besser gesagt, sich ans Leben hängen möchte, mag mit Grauen gewahren, wie die Tage wieder leicht zu werden und zu huschen beginnen; und die letzte Woche, etwa von vieren, hat unheimliche Rapidität und Flüchtigkeit. Freilich wirkt die Erfrischung des Zeitsinnes dann über die Einschaltung hinaus, macht sich, wenn man zur Regel zurückgekehrt ist, aufs neue geltend: die ersten Tage zu Hause werden ebenfalls, nach der Abwechslung, wieder neu, breit und jugendlich erlebt, aber nur einige wenige: denn in die Regel lebt man sich rascher wieder ein, als in ihre Aufhebung, und wenn der Zeitsinn durch Alter schon müde ist oder – ein Zeichen von ursprünglicher Lebensschwäche – nie stark entwickelt war, so schläft er sehr rasch wieder ein, und schon nach vierundzwanzig Stunden ist es, als sei man nie weg gewesen, und als sei die Reise der Traum einer Nacht.“

Im OP

Vor dem OP habe ich Ehrfurcht. Es gelten besondere Regeln, oft herrscht ein rauher Umgangston; man muss penibel darauf achten, sich von sterilen Wägen mit Instrumenten entfernt zu halten, oder aber unsterile Orte meiden (sobald man steril ist). Beim Waschen haben die Hände höher zu sein als die Ellenbögen, damit kein Desinfektionsmittel von den unsterilen Oberarmen in Richtung Hände läuft; bevor der sterile Kittel angezogen ist, sind die Ellenbögen vom Körper entfernt und die Hände in Brusthöhe zu halten. Den Nasenschutz darf man sich mit sterilen Handschuhen nicht mehr zurecht ziehen (und sich auch nirgendwo im Gesicht jucken, was oft sehr unangenehm sein kann…), und falls etwas vom Tisch rutscht, sollte man es bloß nicht aufhalten (ab einer bestimmten Höhe wird der Sterilität des Kittels und Abdecktuchs nicht mehr getraut). Sobald man den Raum betritt, stellt man sich mit lauter Stimme vor und grüßt, sonst ist man schnell unten durch bei den OP-Assistenten, die Schüchternheit und Unsicherheit mit Arroganz verwechseln.

Ich bin schon fast Expertin

Heute fällt mir auf, wieviele dieser Regeln ich inzwischen schon verinnerlicht habe. Bei der ersten OP, der Reposition eines Leistenbruchs, durfte ich assistieren, und die nette Assistenzärztin, die mich diese Woche unter ihre Fittiche genommen hat, hat mich sogar die Hautnaht machen lassen! Jetzt, bei der zweiten OP, soll die Studentin aus dem 7. Semester mit an den OP-Tisch. Erst einmal hatte sie sich zuvor eingewaschen, und so ist sie sehr erleichtert, als ich mit ihr in den Waschraum gehe und ihr noch einmal erkläre, worauf sie achten muss.

Einen offenen Bauch vor sich zu haben, ist gewöhnungsbedürftig

Was für die Ärzte und OP-Pfleger Alltag ist, ist für Studenten durchaus nicht immer leicht zu verdauen: das erste Mal bei einer großen Operation zu assistieren, die lebenden Organe eines Patienten vor sich liegen zu haben und anzufassen, den glibschigen, warmen Darm festzuhalten und dabei seine Bewegungen zu spüren, oder sogar eine blutig spritzende Arterie zu sehen – das alles ist gewöhnungsbedürftig.  Natürlich, nach dem Präp-Kurs in der Vorklinik kennen wir die Anatomie eines Menschen, aber das Ganze bei einem lebenden Patienten vor sich zu haben, ist etwas anderes.

Darüber gesprochen wird selten. Ich mache es heute anders: „Und falls dir schwindelig wird oder so, sag einfach Bescheid, dann trittst du ab und kannst dich hinsetzen. Das ist mir letzte Woche auch passiert und alle waren total nett, das ist vollkommen ok. So lange du nicht am Tisch umkippst, nimmt dir das keiner übel.“ Die Studentin lächelt mich dankbar an. Auch ihr sei schon einmal schwindelig geworden, wir teilen also eine Schwäche – oder eher menschliche Züge? Jetzt geht sie los in den OP, und ich in die Ambulanz, denn zu viert (Oberärztin, Assistenzärztin + zwei Studentinnen) wird es zu eng am OP-Tisch.

Als ich sie am nächsten Morgen sehe frage ich, wie es lief. „Sehr gut“, strahlt sie. Sie konnte sogar etwas helfen, und keinerlei Schwindel sei aufgetreten. Wir lächeln uns an. Und folgen den Ärzten zur Visite. Nachher gehen wir wieder zusammen in den OP: Jeden Tag mit ein bisschen mehr Selbstverständlichkeit.

Kindercharaktere und ärztliche Kunst

Wie unterschiedlich Kinder schon im jungen Alter sind, sieht man im Krankenhaus besonders deutlich. Kaum ein Kind geht gerne zum Arzt, und Erziehung und Temperament kommen in unangenehmen Untersuchungssituationen besonders zu Vorschein. Oft eine herzzerreißende Angelegenheit, manchmal aber auch unangenehm und anstrengend für das ärztliche Personal…

Ein kleiner Held

Der 18 Monate alte Jonathan kommt zum Verbandswechsel. Vor zwei Monaten hat er sich den Finger in der Tür geklemmt, ein recht großer Weichteildefekt mit kleiner Amputation am Ringfinger (ein Stückchen Finger fehlte), wurde versorgt. Nun ist er mit seinem sympathischen Papa, einem jungen Mann Anfang 30 (Lehrer? Sozialpädagoge?) wieder da.

Todernst blickt unser kleiner Patient aus großen Kinderaugen. Er sitzt bei seinem Vater auf dem Schoß, und im Moment scheint es ihm nichts auszumachen, dass wir uns ihm nähern. Als die Ärztin langsam beginnt, den Verband an seiner Hand abzuwickeln, schaut er argwöhnisch, lässt es sich aber ohne Wehr gefallen. Mindestens fünf Minuten dauert es, bis der Verband vollständig gelöst ist, nun machen wir uns an das Pflaster, das direkt auf der Wunde liegt.  Das tut jetzt weh!

Immer kritischer beäugt Jonathan die Ärztin, die nun seine Hand in Wasser taucht, um den Pflasterkleber etwas zu lösen. Aber tapfer hält er still. Zwischendurch schließt er seine Augen, ganz fest, wie um sich zu sagen, dass das jetzt noch durchgestanden werden muss, es aber bald vorbei ist! Ist es möglich, dass der 1,5jährige das schon so versteht?

Als wir fast fertig sind, reicht es Jonathan, leise läuft ihm eine Träne über die Wange, dann fängt er an, in sich hinein zu schluchzen. Aber noch immer hält er tapfer still, wartet, bis die Tortur überstanden ist. Was für ein tapferer, lieber Junge!

Kaum zu bändigen

Über den zweijährigen Milo hingegen wurde uns schon in der Morgenbesprechung berichtet – er zeige regelmäßig selbst- und fremdverletzendes Verhalten (Ich dachte morgens, ich hätte mich verhört und es wäre 12 gemeint…). Nun ist er am Vortag gestürzt und zur Überwachung im Krankenhaus (Gehirnerschütterung?). Davon, dass wir zur Visite zu fünft in sein Zimmer kommen, zeigt sich Milo wenig beeindruckt. Wie ein kleiner Wirbelwind turnt er auf dem Bett herum, nur schwer lässt er sich von seiner Mutter bändigen, damit wir ihn untersuchen können.

Kurz scheint er an der Ärzteschaft Interesse zu haben, doch dann wird es ihm zu langweilig, er windet sich, kreischt, kneift seine Mutter in die Schulter, fängt an, in unsere Richtung zu spucken… dieser Junge hat bestimmt noch eine aufregende Schulkarriere vor sich!

Der Träumer

Dem Vierjährigen José begegne ich nachmittags in der Sprechstunde – er hatte eine Wunde an der Schulter, die per Naht versorgt worden war, und bei dem die Fäden nun aus der Haut austreten. Es ist nicht viel zu tun – die Ärztin desinfiziert die Narbe und zieht zwei kleine Fadenreste – doch José hat keine Lust, sich behandeln zu lassen. Hat er vielleicht schlechte Erinnerungen an die Notaufnahme oder unsere weißen Kittel?

Aber seine Mutter kennt ihn – in beruhigendem Flüsterton erzählt sie ihm die Geschichte von „Cenicienta“ (spanisch, Aschenputtel). Sobald sie hierbei unterbrochen wird, weil die Ärztin eine Frage hat oder José seine Körperhaltung etwas ändern soll, fängt dieser an zu quengeln. Solange er die Geschichte hört, ist er wie in einen Bann versunken und lässt uns in Ruhe arbeiten. Noch beim Anziehen und Herausgehen erzählt seine Mutter weiter, erst auf dem Flur, als ihm sein großer Bruder entgegen läuft, erwacht José aus seiner privaten Märchenstunde.

Ein guter Arzt sein heißt, sich an seine Patienten anzupassen

Wir können uns unsere Patienten nicht aussuchen, und so müssen sich Ärzte an die unterschiedlichen Charaktere anpassen. Bei den Erwachsenen ist es der Sprachkodex, den man wählt, um eine Diagnose zu erläutern; bei den Kindern die Anwendung / Auswahl einer geeigneten Ablenkungsmethode und die Zusammenarbeit mit den Eltern. Immer mehr beobachte ich, wie wichtig dieser Teil der ärztlichen Tätigkeit ist – ohne die Fähigkeit, die Patienten zum reden zu bringen / eine Atmosphäre zu schaffen, in der das Kind sich untersuchen lässt, hilft die beste Fachkenntnis nichts.

Willkommen in der Medizin, einer sozialen Naturwissenschaft!

In der Kinderchirurgie

Visite: Wir machen uns auf unseren morgendlichen Rundgang und schauen nach unseren kleinen Patienten. Nach denen, die wir in den letzten Tagen operiert haben, nach denen, die mit Beschwerden kamen und zur Überwachung im Krankenhaus sind, und denen, die heute operiert werden sollen.

Zuerst ist der kleine Niklas dran. Der eigentlich bei den Kinderärzten (nicht Chirurgen) untergebrachte Dreijährige hatte eine Purpura Schönlein Henoch, eine nach Infekten auftretende Entzündung der kleinen Gefäße durch Immunkomplexablagerungen. Die Kinder haben einen Hautausschlag, oft auch Gelenk-, Bauchschmerzen und eine Nierenbeteiligung. Bei Niklas kam noch ein entzündeter Lymphknoten am Hals dazu, in dem sich Eiter gebildet und abgekapselt hatte (Abszess).  Treu nach dem Jahrtausende alten Lehrsatz des Hippokrates: Ubi pus, ibi evacua – „Wo Eiter ist, lass ihn ab“ hatten wir den Abszess am Vortag im OP gespalten.

Wir machen uns unbeliebt

Nun muss der Verband gewechselt werden. Niklas weiß sofort, worum es geht, und windet sich, als wir seine Mutter und ihn mit in den Verbandsraum nehmen. Ich muss herhalten als Kinderkopfhalterin, und mein Oberarzt löst schnell das Pflaster, tauscht die alte gegen die neue Lasche aus, die in die offene Abszesshöhle gesteckt wird, damit noch vorhandener Eiter ablaufen kann; ein neues Pflaster, und schon sind wir fertig.

Der kleine Eingriff hat keine zwei Minuten gedauert. Niklas ist dennoch bitterböse und kuckt uns aus wütenden Kinderaugen an. Besonders mein Oberarzt erntet hasserfüllte Blicke. „Der weiß genau, wer der Aggressor war“, lautet sein schmunzelnder Kommentar. Aber die Mutter ist froh, als sie erfährt, dass die Wunde komplett reizlos aussieht und der nächste Verbandswechsel beim Kinderarzt stattfinden darf. Sie dürfen nach Hause!

Der nächste kleine Patient ist der achtjährige Fabian, der gestern mit Verdacht auf Blinddarmentzündung kam. Heute soll er operiert werden, hoffentlich bald. Wir erklären den Eltern, dass wir Fabian als Notfall im OP angemeldet haben, und es maximal noch sechs Stunden bis zur Operation dauern sollte. Die ganze Familie ist sichtlich erleichtert. Endlich geht es los!

Interdisziplinarität in der Medizin

Nun gehen wir zu Mamadou. Das drei Monate alte Baby kam mit einer Ösophagusatresie auf die Welt: seine Speiseröhre war auf dem Weg zwischen Rachen und Magen unterbrochen. Schon einige Wochen vorher waren die beiden blinden Enden wieder zusammengenäht worden, doch da Mamadou nicht genug trank und deswegen nicht genug an Gewicht zunahm, hatten wir ihm vor zwei Tagen eine PEG-Sonde angelegt. Jetzt bekommt er nachts ergänzend Nahrung über die Sonde, die durch die Bauchdecke direkt in den Magen führt.

Als wir in das Zimmer kommen, sieht Mamadous Mutter nicht sehr glücklich aus. Ihr Sohn habe sehr viel geweint und ihm gehe es nicht gut. Wir untersuchen den Jungen. Mit dem Bäuchlein ist mein Oberarzt sehr zufrieden, und auch ich taste das weiche Abdomen ab. Aber verschnupft ist der kleine Patient, und bei der Auskultation hören wir deutliche Rasselgeräusche. Wir melden ein Röntgen an, um eine Lungenentzündung auszuschließen, außerdem ein Konsil bei den Kinderärzten. Sie sollen sich das Baby auch nochmal anschauen – Teamwork in der Medizin.

Dann klingelt das Telefon meines Oberarztes, das erstaunlicherweise lang ruhig geblieben ist. „Wir müssen in den OP.“ Wir erklären Mamadous Mutter schnell das weitere Vorgehen und los geht es. Die anderen Patienten müssen sich noch eine Weile gedulden.