Kindercharaktere und ärztliche Kunst

Wie unterschiedlich Kinder schon im jungen Alter sind, sieht man im Krankenhaus besonders deutlich. Kaum ein Kind geht gerne zum Arzt, und Erziehung und Temperament kommen in unangenehmen Untersuchungssituationen besonders zu Vorschein. Oft eine herzzerreißende Angelegenheit, manchmal aber auch unangenehm und anstrengend für das ärztliche Personal…

Ein kleiner Held

Der 18 Monate alte Jonathan kommt zum Verbandswechsel. Vor zwei Monaten hat er sich den Finger in der Tür geklemmt, ein recht großer Weichteildefekt mit kleiner Amputation am Ringfinger (ein Stückchen Finger fehlte), wurde versorgt. Nun ist er mit seinem sympathischen Papa, einem jungen Mann Anfang 30 (Lehrer? Sozialpädagoge?) wieder da.

Todernst blickt unser kleiner Patient aus großen Kinderaugen. Er sitzt bei seinem Vater auf dem Schoß, und im Moment scheint es ihm nichts auszumachen, dass wir uns ihm nähern. Als die Ärztin langsam beginnt, den Verband an seiner Hand abzuwickeln, schaut er argwöhnisch, lässt es sich aber ohne Wehr gefallen. Mindestens fünf Minuten dauert es, bis der Verband vollständig gelöst ist, nun machen wir uns an das Pflaster, das direkt auf der Wunde liegt.  Das tut jetzt weh!

Immer kritischer beäugt Jonathan die Ärztin, die nun seine Hand in Wasser taucht, um den Pflasterkleber etwas zu lösen. Aber tapfer hält er still. Zwischendurch schließt er seine Augen, ganz fest, wie um sich zu sagen, dass das jetzt noch durchgestanden werden muss, es aber bald vorbei ist! Ist es möglich, dass der 1,5jährige das schon so versteht?

Als wir fast fertig sind, reicht es Jonathan, leise läuft ihm eine Träne über die Wange, dann fängt er an, in sich hinein zu schluchzen. Aber noch immer hält er tapfer still, wartet, bis die Tortur überstanden ist. Was für ein tapferer, lieber Junge!

Kaum zu bändigen

Über den zweijährigen Milo hingegen wurde uns schon in der Morgenbesprechung berichtet – er zeige regelmäßig selbst- und fremdverletzendes Verhalten (Ich dachte morgens, ich hätte mich verhört und es wäre 12 gemeint…). Nun ist er am Vortag gestürzt und zur Überwachung im Krankenhaus (Gehirnerschütterung?). Davon, dass wir zur Visite zu fünft in sein Zimmer kommen, zeigt sich Milo wenig beeindruckt. Wie ein kleiner Wirbelwind turnt er auf dem Bett herum, nur schwer lässt er sich von seiner Mutter bändigen, damit wir ihn untersuchen können.

Kurz scheint er an der Ärzteschaft Interesse zu haben, doch dann wird es ihm zu langweilig, er windet sich, kreischt, kneift seine Mutter in die Schulter, fängt an, in unsere Richtung zu spucken… dieser Junge hat bestimmt noch eine aufregende Schulkarriere vor sich!

Der Träumer

Dem Vierjährigen José begegne ich nachmittags in der Sprechstunde – er hatte eine Wunde an der Schulter, die per Naht versorgt worden war, und bei dem die Fäden nun aus der Haut austreten. Es ist nicht viel zu tun – die Ärztin desinfiziert die Narbe und zieht zwei kleine Fadenreste – doch José hat keine Lust, sich behandeln zu lassen. Hat er vielleicht schlechte Erinnerungen an die Notaufnahme oder unsere weißen Kittel?

Aber seine Mutter kennt ihn – in beruhigendem Flüsterton erzählt sie ihm die Geschichte von „Cenicienta“ (spanisch, Aschenputtel). Sobald sie hierbei unterbrochen wird, weil die Ärztin eine Frage hat oder José seine Körperhaltung etwas ändern soll, fängt dieser an zu quengeln. Solange er die Geschichte hört, ist er wie in einen Bann versunken und lässt uns in Ruhe arbeiten. Noch beim Anziehen und Herausgehen erzählt seine Mutter weiter, erst auf dem Flur, als ihm sein großer Bruder entgegen läuft, erwacht José aus seiner privaten Märchenstunde.

Ein guter Arzt sein heißt, sich an seine Patienten anzupassen

Wir können uns unsere Patienten nicht aussuchen, und so müssen sich Ärzte an die unterschiedlichen Charaktere anpassen. Bei den Erwachsenen ist es der Sprachkodex, den man wählt, um eine Diagnose zu erläutern; bei den Kindern die Anwendung / Auswahl einer geeigneten Ablenkungsmethode und die Zusammenarbeit mit den Eltern. Immer mehr beobachte ich, wie wichtig dieser Teil der ärztlichen Tätigkeit ist – ohne die Fähigkeit, die Patienten zum reden zu bringen / eine Atmosphäre zu schaffen, in der das Kind sich untersuchen lässt, hilft die beste Fachkenntnis nichts.

Willkommen in der Medizin, einer sozialen Naturwissenschaft!

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