Patienten, die einem nicht aus dem Kopf gehen

Herr Serani* ist einer von ihnen – ein Patient, an den ich immer wieder denken muss, obwohl unsere Begegnung nun schon einige Wochen her ist. Hier seine Geschichte.

Ich bin gerade für mein PJ in Nordamerika. Nach einem Sprung in’s kalte Wasser habe ich mich daran gewöhnt, voll mitzuarbeiten im Gastroenterologie-Service. Inzwischen finde ich mich sogar im riesigen, verwinkelten – da über Jahrzehnte mehrfach erweiterten – Krankenhaus wieder, ohne ständig unfreiwillige Umwege zu machen. Die Studenten dürfen / müssen hier sehr selbständig mitarbeiten, und so bin ich heute wieder unterwegs zu einem Konsil. Die Kollegen im Emergency Room rufen uns, da sie eine GI-Blutung (gastrointestinale Blutung) bei einem ihrer Patienten vermuten.

Schnell suche ich mir das Konsil in Papierform, einen freien PC und lese im System nach, was die Ärzte der Notaufnahme schreiben. Der  93jähriger Patient heißt Herr Serani und wurde vom Rettungsdienst gebracht, nachdem er heute Morgen eine Synkope hatte, also in Ohnmacht gefallen ist. Kaum Vorerkrankungen bis auf einen gut eingestellten Bluthochdruck und eine Knie-OP vor 15 Jahren – es scheint sich um einen recht fitten alten Herrn zu halten. Nur der Hämoglobinwert spring mir in’s Auge: mit 7,6 sehr niedrig und Grund dafür, dass uns die Kollegen rufen. Bei einem solchen Wert und gutem Allgemeinzustand ist ein chronischer Prozess anzunehmen – oft eine sickernde Blutung im Darmtrakt.

Nach diesem ersten Eindruck ist es Zeit, direkt mit dem Patienten zu sprechen. Ich suche mir die Kabine und stehe kurz später am Krankenbett. Anamnese: Die Angaben in der Akte sind richtig: keine weiteren Vorerkrankungen, gelegentlicher Alkoholgenuss, kein Tabak, keine Drogen; die Medikamentenliste ist aktuell. In Gedanken gehe ich meine Struktur durch, nun zur HPI (History of present illness). Herr Serani sei heute früh bei seiner Ehefrau zu Besuch gewesen, die mit Demenz im Pflegeheim wohnt. Auf dem Weg zurück zum Aufzug sei ihm dann plötzlich schwindelig geworden und er habe sich auf dem Boden liegend wiedergefunden. Sogar geblutet habe er vom Sturz. Herr Serani zeigt auf den Verband an seiner linken Schläfe. Nein, in den letzten Wochen habe er keine Veränderungen bemerkt, nur etwas müde sei er gewesen. Schwindel? Ja, vielleicht. Übelkeit – nein. Erbrechen – nein. Veränderungen des Stuhlverhaltens – was meinen Sie damit? Durchfall, schwarzer Stuhl, blutiger Stuhl, Änderungen in Form und Farbe? Nein. ÖGD oder Koloskopie in der Vergangenheit? Nie.

Wie sinnvoll es ist, sich während des Patientengesprächs an seine Struktur zu halten, habe ich inzwischen gemerkt, denn bei der Übergabe an den Oberarzt nicht auf alle Details antworten zu können ist peinlich. Zum Glück bleibt dennoch Zeit für mehr – zumindest für mich als Studentin. Herr Sertani unterbricht, und will wissen wo ich herkomme. Als er hört, dass ich aus Deutschland komme, grinst er breit und bietet mir an, das Gespräch auf deutsch weiterzuführen.

„Wissen Sie, ich komme nicht aus Deutschland aber ich bin deutschsprachig aufgewachsen. In Rumänien, in einer deutschen Gemeinde. Meine Mutter war Deutsche. Ja – mein Name klingt nicht deutsch, den habe ich ändern lassen. Wieso? Ach, das ist eine etwas längere Geschichte. Vor meinem 20. Lebensjahr hatte ich bereits zwei Jahre in der russischen Armee gedient und war ein Jahr im Konzentrationslager. Als Jude war das Leben unglaublich schwer, damals im Krieg. Nach Rumänien wollte ich nicht zurück nach 1945, also bin ich nach Italien. Und da mein Cousin bereits nach Argentinien geflohen war und wir gemeinsam nach Kanada auswandern wollten, hab ich dann meinen Namen geändert. Wieso? Na weil weder Argentinien noch Kanada nach dem Krieg Juden aufnehmen wollten! Nazis durften rein, aber Juden? Deswegen heiße ich nicht mehr Silberbach. Aber Sertani ist auch schön, oder?

Naja, jedenfalls konnte ich so auswandern. Zwar nicht direkt nach Kanada, sondern nach Südamerika – ich habe 17 Jahre in Chile gelebt. Erst später bin ich dann mit meinem Cousin nach Kanada gezogen. Und Sie sind auch neu hier? Wie schön, dass das Reisen heutzutage so einfach ist… Damals war das anders.“

Interessiert lausche ich den Worten des alten Mannes, und auf meine lobenden und dankenden Worte, nickt er stolz und erklärt, dass er vor kurzem für ein Museumsprojekt interviewt worden sei, als Zeitzeuge. Denn bald seien auch die letzten seiner Generation verstorben, da müsse man sich jetzt beeilen. Beeindruckt von der geistigen Klarheit und Intelligenz des Patienten, aber auch der Gewaltsamkeit seines Lebenslaufes verweile ich noch eine Weile im Patientenzimmer und unterhalte mich mit Herrn Serani, das geht gut während der körperlichen Untersuchung. Was für ein Privileg, als Teil seiner Arbeit solch wertvollen Gespräche führen zu dürfen!

Bei der Übergabe an den Oberarzt später zählen jedoch nur die harten Fakten: „Herr Serani ist ein 93jähriger Patient mit Hypertension, der heute Mittag eine Synkope erlitt. Er beschreibt zunehmende Müdigkeit während der letzten Wochen und ist ansonsten symptomlos. Er hatte noch nie eine Darmspiegelung. Die körperliche Untersuchung inklusive digital-rektaler Untersuchung waren unauffällig. Allerdings lag der Hämoglobin bei 7,6mg/dl; somit ist eine Koloskopie (Darmspiegelung) zum Ausschluss einer unteren GI-Blutung indiziert.“

Für mehr reicht die wertvolle Zeit des Oberarztes leider nicht; aber zumindest euch konnte ich etwas mehr von Herrn Serani erzählen.

*Name geändert